Arbeiten in einer fremden Stadt, das ist etwas anderes, als die Stadt als Tourist zu erkunden. Das erste Mal fiel es mir in den frühen 1990er Jahren in Rom auf, als ich dort einen Katalog produzierte. Die Stadt bekam Wege, die nichts mit Sehenswürdigkeiten zu tun hatten. In Jerusalem und Tel Aviv war es mir in den 15 Jahren regelmäßiger Besuche seit 1992 selbstverständlich, weil ich die beiden Städte (wie überhaupt das Land) nie touristisch besucht hatte. Ich beobachtete die Kunstszene und bereitete Ausstellungen und Kataloge vor.
In Peking habe ich jetzt seit gut einer Woche auch meine „Arbeitszeit“; ich muß einen zu Hause nicht fertig gestellten Katalogtext schreiben und einen anderen auf die Bedürfnisse der Publikation einkürzen. Die Wege sind mir jetzt, wie in Rom, vorgeschrieben, ich gehe sie selbstverständlich und schaue mir dabei die Menschen an, die mir jedesmal begegnen: die Studierenden einer nahen Hochschule (weiße Trainings-Schuluniformen) auf dem Hinweg, die in Restaurants, zum Einkaufen oder nach Hause gehenden auf dem Rückweg zum Arbeitsschluss. Die Straßen wechseln zwar nicht ihr Gesicht, aber sie setzen andere Akzente.
Parallel dazu lese ich möglichst häufig einer der englisch sprachigen Tagenszeitungen (Papier): China Daily.
Was wird mir da über die Welt und das Land mitgeteilt. Die aktuelle Ausgabe umfasst 24 Seiten und kostet 1,4 Yuan (ca. 18 cent).
Auf der unteren ersten Seite gibt es unter der Überschrift „Carrier docks at Qingdao“ ein Foto vom ersten chinesischen Flugzeugträger. Die Stadt Qingdao verfolgt mich seit unserem Besuch immer mit den Bereichen, die ich nicht gesehen habe: dem Hafen und auch mit seiner strategischen Bedeutung. Gestern gab es einen großen, farbigen doppelseitigen Beitrag über die Aufnahmeprüfungen an der Pekinger Theater- und Filmhochschule. „Reaching for the stars“ lautet der Titel und eine der Zwischenüberschriften sagt gleich, wie wichtig das ist: „For many, the persuit of acting is a family affair“, was nicht nur heißt, dass es ein sehnlicher Familienwunsch ist, eine berühmte Tochter zu haben, sondern auch, dass schon die ersten Schritte dazu viel Geld kosten. Flugtickets, Hotel und Training kosteten eine 48-jährige Mutter allein die Aufnahmeprüfung ihrer 20jährigen Tochter.
Stars sind Stellvertreter des Heimatgefühls und geliebte Identifikationsfiguren. Sie haben für unzählige Junge und Alte eine unglaubliche Anziehungskraft. Viele Moderatoren und Moderatorinnen der Fernsehsender werden geradezu auf dieses Starimage hin getrimmt.
Heute gibt es einen weiteren, auf der Titelseite angekündigten Bericht über die Prüfungen.
Marginal neben einem großen Artikel über die guten Investitionsaussichten für chinesische Firmen in den USA und der EU gibt es ein kleines schwarz-weiß Foto vom weltweit ersten Panda thematischen Hotel am Fuße der Emei Berge in Sichuan (einer der zehn heiligen Berge des Landes).
Interessanter ist aber die Analyse der Investitionsaussichten und die Begründungen dafür. Der chinesische Investment Experte Li Zhongzhou (ein früherer „official“ vom Wirtschaftsministerium) bedeutet, dass chinesischen Firmen helfen könnten neue Jobs in den USA zu schaffen, was mehr und effektiver sei, als die Furcht vor Technology-Klau und Jobverlust. Die Situation in der EU wird als nüchterner beschrieben und die Übernahme des deutschen Zement-Pumpen-Herstellers Putzmeister für 360 Mio.€ ausdrücklich erwähnt. In Europa sind die Chinesen vor allem am Infrastruktur-Markt interessiert.
Groß berichtet wird darüber, dass eine Petition in den USA eingebracht wurde, einen Tag des Frühlingsfestes (Lunar New Year) als offiziellen Feiertag anzuerkennen und den Studierenden frei zu geben. Von 14,7 Mio. Asiaten in den USA haben diese Petition aber nur 40.000 unterschrieben. Der Artikel nahm immerhin eine halbe Zeitungsseite ein. Auf der Rückseite zeigte eine Illustration, dass die Probleme der chinesischen Gesellschaft „House prices, Inflation, Shadow banking“ zu gefährlichen Schlaglöchern für den radelnden Panda-Bär werden können. Im weiteren wurde in den vergangenen drei Ausgaben über die Unterkunftssituaiton für junge Darstellerinnen („A safe home away from home for young aspiring actresses“) berichtet und über ein Sechuan Restaurant (beliebt für ihre scharfe Küche, vor allem beim „Feuertopf“), dass in Peking eröffnet wurde, aber keine Küche mehr hat. Alle Zutaten werden in separaten „clean, neat boxes“ aus Chengdu angeliefert. Da auf den Tischen wie beim Fondue selbst gegart wird, erübrigt sich eine Küche. Nicht mitgeliefert wird die Information über die dabei anfallenden CO2 Werte – eine einfache, interessante Meldung ist eben auch in sich kompliziert. Ansonsten scheint es eine wichtige Nachricht zu sein (steht direkt neben der Meldung), dass am Shanghai Bund ein Restuarant sich darum bemüht, einen Ruf durch das Styling der amerikanischen Prohibitions-Zeit der 1920-30er Jahre zu erhalten. Coctails im Stil der schwarz-weißen Gangsterfilme der Zeit. – Man sieht, durch das Styling der Bars und Restaurants wird auch der Geschmack der Leser gestylt.